Ich staunte nicht schlecht, als ich vor einigen Tagen bei einer schönen Tasse Kaffee die Maiausgabe der Inselzeitung durchblätterte und dort tatsächlich eine zweiseitige Rezension von Herrn Dr. Kurzke zu meiner im Jahr 2004 veröffentlichen Diplomarbeit vorfand – mitsamt eines kurzen Abgleichs meiner damaligen Erkenntnisse und Prognosen mit der Realität, so wie sie sich heute, 20 Jahre später, darstellt.
Ich war sehr gerührt und auch ein klein wenig stolz – und ich fand mich sofort inmitten all meiner Erinnerungen wieder, als ich zu Beginn des neuen Jahrtausends an meiner Abschlussarbeit über nachhaltige Regionalentwicklung auf Pellworm arbeitete:
An einem stürmischen Januarabend im Jahr 2002 saß ich mit meinem Diktiergerät im Büro von Walter Fohrbeck, der damals von Gemeindeseite mit Aufgaben innerhalb der „Ländlichen Struktur- und Entwicklungsanalyse (LSE)“ betraut war, und mir nun mit großer Leidenschaft und Sachkenntnis die Zusammenhänge der Pellwormer Zukunftsentwicklung erläuterte – es war ein sehr aufschlussreicher und sehr langer Abend, an dessen Ende ich zu meinem Quartier im Westen der Insel aufbrach und er mich mit den Worten verabschiedete: »Und fahren Sie mit Ihrem Rad auf jeden Fall rechts ran, wenn Sie um diese Zeit hier von hinten ein Auto hören – man kann nie wissen…!«
Ich danke ihm noch heute sehr für dieses intensive Gespräch – ebenso wie allen anderen Interviewpartnern, die mir, dem Geographie-Studenten, damals mit einem unfassbar großen Vertrauensvorschuss begegneten und mir so bereitwillig Einblicke in die Entwicklung der Insel gegeben haben.
Meine Rolle als Bobachter von außen, der selbst nicht Teil der Inselgemeinschaft ist, war ja nicht ganz unproblematisch: »Dor kömmt nu wedder so’n ‚Grönschnabel‘ vun buten, de ons wat vun Entwicklung vertellen wull…« Das sagten damals einige Skeptiker, nicht ganz zu Unrecht. Dabei habe ich mich nie als einen der „wissenschaftlichen Besserwisser“ mit erhobenem Zeigefinger gesehen, sondern – im Gegenteil – vielmehr als einen zugewandten, bescheidenen Beobachter, der um die unerhörten Schwierigkeiten einer nachhaltigen Zukunftsentwicklung weiß und größten Respekt vor dem Beitrag hat, den jeder innerhalb der Inselgesellschaft an jedem einzelnen Tag leistet, damit die Insel ein lebenswerter Ort ist und auch in Zukunft bleibt.
Meine Zugewandtheit zu Pellworm war nicht bloß auf meine Diplomzeit beschränkt, sondern ich bin in die Rolle dieses Beobachters von außen über viele Jahre hineingewachsen: Als ich Kleinkind war, schrieb mein Vater seine Staatsarbeit über den sozioökonomischen Strukturwandel auf der Insel – und seitdem besuchte unsere junge, wachsende Familie Pellworm regelmäßig. Wir verbrachten jedes Jahr mehrere Wochen als Gäste mit Familienanschluss bei Anke und Johann Petersen am Westerschütting, die es uns mit ihrem Bekanntenkreis ermöglichten, zumindest einen kleinen Teil der Inselgesellschaft ein Stück weit von innen kennenzulernen. Für meine Geschwister und mich waren das unvergessliche Inselsommer, die uns sehr geprägt haben: Wir halfen beim Melken und Kälberfüttern, ich lernte von Johann das Traktorfahren und wir fuhren nach der Heu- und Strohernte oben auf dem schaukelnden Fuder liegend über die Inselstraßen. Nach getaner Arbeit saßen abends alle bei einem einfachen, aber reichlichen Abendessen zusammen im Hof und wir Kinder spielten noch im Heu, bis irgendwem die Augen zu fielen…
Während meines Geographiestudiums ergab es sich dann fast als logische Konsequenz, meine Abschlussarbeit über Pellworm zu schreiben und dabei auch einen Vergleich zu den damaligen Beobachtungen meines Vaters zu ziehen. Nachhaltigkeit entwickelte sich damals zu einem bis heute vieldiskutierten Konzept – und was konnte ein besseres Beispiel dafür sein als eine Insel in der Nordsee, auf der nachhaltiges Wirtschaften schon immer mitgedacht wurde?
Nachdem ich anschließend ein gutes Jahrzehnt in der Luftbildvermessung gearbeitet hatte, war das Kapitel Geographie für mich zumindest beruflich Geschichte: Ich beschloss, meine zweite Leidenschaft zu professionalisieren und mich nach einem Fotodesign-Studium als Fotograf selbständig zu machen. Als solcher kehre ich auch heute noch regelmäßig mit meiner Familie nach Pellworm zurück und beobachte die Insel durch meinen Kamerasucher – so, wie ich es nebenbei schon seit der Schulzeit getan hatte. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch an meine schwarzweiße Kunstkartenserie, die es einige Jahre lang bei Hauke Martensen im Laden zu kaufen gab. Dort erwarb ich übrigens schon im Herbst 1992 von meinem gesparten Taschengeld für 200 Mark eine nagelneue Praktica-Spiegelreflexkamera – ein Modell noch aus DDR-Produktion, das dort in einer Vitrine wohl über die Wende im Dornröschenschlaf gelegen hatte: Sie war mir viele Jahre eine treue Begleiterin bei meinen Streifzügen über die Insel und auch anderswo.
Und so stand ich noch in den Ostertagen dieses Jahres an der Tammwarft auf dem Deich und blickte in Richtung Süderoog – und in diesen Momenten, wenn ich in der friedlichen Abendstille über dem Watt die Schreie der Austernfischer höre, wenn die Insel und ihr Weg durch die Zeit in meinem Rücken liegt, dann frage ich mich, wo all die Jahrzehnte geblieben sind: Dann bin ich wieder der kleine Junge, der nach einem aufregenden Tag im Heu in die unfassbare Weite des Wattenmeeres blickt und in aller Demut spürt, dass er irgendwo in diesem großen Ganzen seinen bescheidenen Platz hat…
Tobias Klostermann, Münster