Visionen

Müssen jetzt alle zum Arzt?

Eine kurze Geschichte Pellwormer Visionen

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ meinte der 2015 verstorbene frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt. Hätte er Recht gehabt, wäre Pellworm fast ein Fall für die Intensivstation. Visionen über eine mögliche Entwicklung der Insel begleiten Pellworm seit vielen, vielen Jahren.

1989 stellte der damals gegründete Verein Ökologisch Wirtschaften seine Vision für eine mögliche Entwicklung der Insel vor. Es sollten Entwicklungschancen für Landwirtschaft und Fremdenverkehr aufgezeigt werden.

Damals gab es noch 86 landwirtschaftliche Betriebe auf der Insel, für zahlreiche Bauern erschien ihre Zukunft unsicher . Zum einen fehlten Hofnachfolger, zum anderen sahen viele die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Betriebe sehr skeptisch. Im Fremdenverkehrsbereich stagnierte die Entwicklung und bei den Gewerbetreibenden deutete sich bereits an, dass hier Betriebe ihre Pforten schließen würden.  Die recht isolierte Insellage, damals noch ohne einen weitgehenden tidefreien Anschluss an das Festland wurde als großes Manko gesehen: Der Verein Ökologisch Wirtschaften stellte dem ein Modell entgegen, mit dessen Hilfe die geographisch bedingten Nachteile der Insellage in ökonomisch und ökologisch erwirtschaftete Vorteile umgewandelt werden könnten. In einem umfangreichen Anhang wurden wesentliche sozio-ökonomische Daten zusammengetragen und ein möglicher Finanzierungsplan für einen ökologischen Umbau der Insel skizziert.

1994 wurde dann eine groß angelegte „Untersuchung zur ökologischen, ökonomischen und sozialen Situation und Entwicklung der Insel Pellworm vorgelegt. Bereits Anfang der 80er Jahre hatte es ein erstes, nur wenige Seiten zählendes sozio-ökonomischen Gutachten gegeben, das auf die damals recht prekäre Lage der Inselbevölkerung hinwies und zur Verbesserung der Situation die Sicherstellung einer tidefreien Fährverbindung vom Festland empfahl.  Das Gutachten von 1994, ,umgangssprachlich als „Müller-Gutachten“ bekannt, war vom Ministerium für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein sowie der Gemeinde Pellworm in Auftrag gegeben worden, federführend war das Team um Prof. Dr. M.J. Müller von der Forschungsstelle für regionale Länderkunde an der Bildungswissenschaftlichen Hochschule Flensburg. Auf mehr als 200 Seiten beleuchtete das Gutachten alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Insel, stellte den jeweiligen Stand dar, machte Prognosen zur zukünftigen Entwicklung und gab Handlungsempfehlungen.  Als Vision formulierten die Autoren ein integriertes Landesentwicklungsprojekt, das eine Förderung des Tourismus als Qualitätstourismus und den Erhalt einer großflächig wirtschaftenden Landwirtschaft vorsah. Bereits damals wurde zu einer Reduktion des PKW-Verkehrs auf der Insel geraten und die Schaffung von Radwegen empfohlen, gefordert wurde u.a. auch, den Anteil von Zweitwohnsitzen nicht weiter zu erhöhen. Heute noch aktuelle Themen wie Direktvermarktung, gezieltes Inselmarketing mit Schaffung eines Markenzeichens  sowie der Ausbau von (landwirtschaftlichen) Verarbeitungsbetrieben zählten bereits vor gut 30 Jahren zu den Empfehlungen der Gutachter.

Mitte der 90er Jahre wurde dann auf Initiative des Vereins Ökologisch Wirtschaften in zwei großen, von der EU und dem damaligen Stromversorger Schleswag finanzierten, Studien eine Energie-Vision für die Insel Pellworm untersucht. Zum einen ging es um die potentiellen Möglichkeiten einer autarken Energieversorgung der Insel sowie (nach den damals vorhandenen technischen Möglichkeiten) deren Umsetzung. Energieeinsparmaßnahmen, der Bau von Windkraftanlagen sowie ein Ausbau der Photovoltaik sowie einer Biogasanlage zählten zu den wesentlichen Bausteinen dieser Vision. Zu den Gutachten  gehörte neben einer umfassenden Erhebung des Ist-Zustandes im Bereich des Energieverbrauchs auch die Ermittlung der Grundlagen für eine im Sinne des Klimaschutzes dringend erforderliche Umstellung auf eine weitest gehende CO2-neutrale Energieversorgung.

2003 folgte im Rahmen der Ländlichen Struktur- und Entwicklungsanalyse ein weiteres Gutachten, das  auf der Basis von zahlreichen Arbeitsgruppen Handlungsempfehlungen für die weitere Entwicklung der Insel beschrieb. Als Nachteil beschrieb das Gutachten, dass es zum damaligen Zeitpunkt kein  allgemeines „Leitbild“ für die Insel Entwicklung gab. Dennoch beschrieb man für zahlreiche Handlungsfelder (von Tourismus, über Wirtschaft, Energie und Verkehr und Landwirtschaft bis hin zu Kultur und Bildung) zahlreiche Projekte, die sich in der Folge in ein Leitbild für die Inselentwicklung Pellworms einfügen sollten. Die im Gutachten aufgeführten „Schwächen“ werden auch nach 20 Jahren immer wieder diskutiert, sei es das „triste Hafenbild“, fehlende Verarbeitungsbetriebe im landwirtschaftlichen Bereich, die Situation des Küstenschutzes und manche andre mehr. Noch während der Erstellung des Gutachtens waren wichtige Projekte bereits in Angriff genommen, so z.B. die Einführung des T-DSL (der damals schnellsten Form der Datenübertragung) andere wie der Abenteuerspielplatz folgten in den Jahren danach.

2004 veröffentliche Tobias Klostermann seine Diplomarbeit zum  Thema „Pellworm – Chancen und Hemmnisse nachhaltiger Regionalentwicklung auf einer Nordseeinsel“. Klostermann konnte zeigen, dass auf der einen Seite auf Pellworm bereits eine Vielzahl von Ansätzen vorhanden waren, die eine nachhaltige Regionalentwicklung der Insel voranbringen könnten, aber auf der anderen Seite Konflikte zwischen einzelnen Akteuren oder Interessensgruppen nicht offen und endgültig ausgetragen wurden.  Diese oft unterschwellig fortbestehenden Konflikte wirkten sich nach seiner Meinung nachteilig für den Entwicklungsprozess aus, obwohl sie nach seiner Einschätzung nur „selten mit diesem in offensichtlicher Verbindung“ stünden. Empfohlen wurden, wie auch schon in den vorangegangenen Studien die Schaffung einer Schlachtmöglichkeit auf Pellworm, die Förderung von Direktvermarktung und Veredlung landwirtschaftlicher Produkte sowie eine Beachtung der engen Verflechtung der verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereiche auf Pellworm sowie deren gegenseitige (positive wie auch negative) Beeinflussung.

2010 erschien die am Institut für Freiraumentwicklung an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover verfasste Diplomarbeit von Annika Henne. Ausgehend von einer Beschreibung der geologischen Bedingungen und der sozioökomischen Struktur der Insel werden die durch Klimawandel und den damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegel Konsequenzen für Pellworm beschrieben. Henne beschrieb 3 verschiedene Szenarien bzw. Visionen vor, die von einem „weiter so“ bis hin zu einer radikalen Vision mit teilweisem Rückbau der Deiche reichen. Hier wird ein Bild entworfen, bei dem nur noch wenig Menschen auf der Insel leben, einige Bauern halten Wasserbüffel und vermarkten Mozzarella und Pellworm ist ein Paradies für Vogelfreunde.

Schon zweimal beschäftigten sich Studierende der Universität Kassel mit Zukunftsperspektiven für die Insel Pellworm. Mitte der 90er Jahre stellten sie drei verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten  vor, Pellworm – alles bleibt wie es ist, Pellworm in Bewegung und Pellworm wird nachhaltig. Eine größere Untersuchung stellte eine zweite Studierendengruppe  2019 vor. In einer umfassenden Betrachtung vieler Einzelaspekte des Lebens und Wirtschaftens von der Ressource Mensch über Tourismus und Landwirtschaft bis zu Natur- und Umweltschutz wurden der aktuelle Stand der Entwicklung sowie mögliche Perspektiven beschrieben. Ihr Modell für eine nachhaltige und ressourcenschonende Entwicklung der Insel mündete in den Vorschlag zum „Slow Island Pellworm“, angelehnt an die internationale Slow City Bewegung. Nach ihren Empfehlungen sollte das Leitbild der Insel konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden. Die lokale Verarbeitung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte gehörte ebenso dazu wie eine Neuausrichtung im Fremdenverkehrsbereich verbunden mit konkreten Vorschlägen für ein Marketing-Konzept, eine grundsätzliche Umgestaltung des Hafenbereichs sowie anders geartete Verkehrslenkung auf Pellworm  und vieles mehr wurde beschrieben.

Neben den hier beschrieben Studien und Visionen gab es noch eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen. So erstellten u.a. Walter Fohrbeck und Mathias Schikotanz ein Entwicklungskonzept für die gesamte Region der Uthlande erstellten , welches Grundlage für die Förderung der Region durch das AktivRegionen Programm wurde.

Visionen gab es nicht nur für das große Ganze, sondern auch für Teilaspekte des Lebens auf Pellworm.

2013 erschien in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin ein Beitrag, der sich mit der allgemein schwierigen Situation der hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum bundesweit sowie den besonderen Herausforderungen zur Sicherung der ärztlichen Versorgung auf Pellworm beschäftigte. Ausgehend vom generellen Mangel an gut ausgebildeten Allgemeinärzt:innen wurde für Pellworm ein Modell vorgestellt, bei dem alle medizinischen Leistungen unter einem Dach vereinigt werden sollten. Die bis dahin von den verschiedensten Kostenträgern  finanzierten Leistungen sollten in einer Kopfpauschale zusammengefasst und in ein Gesamt -Budget für die umfassende medizinische Versorgung auf Pellworm eingebracht werden. Über die Verwendung der Mittel im Einzelnen sollte dann vor Ort gemeinsam entschieden werden.

Man kann zu diesen Visionen sehr unterschiedliche Haltungen entwickeln oder sie , um einen früheren Bürgermeister unserer Insel zu zitieren, diese „veralteten Sachen entsorgen“.

Aber – beim Lesen der alten Studien ist man überrascht, das scheinbar aktuelle Probleme schon vor mehr als 30 Jahren  brandaktuell waren. Manche Lösungsvorschläge verblüffen, einige scheinen plausibel, wieder andere hält man vielleicht von vornherein für Quatsch. Allen gemeinsam ist allerdings, dass man sie unvoreingenommen diskutieren sollte und dann entscheidet, welchen Weg man gemeinsam gehen möchte. Das (Wieder-)Lesen und Nachdenken darüber lohnt sich allemal. Oder – um einen weiteren prominenten Pellwormer zu zitieren: „Wer für die Zukunft plant, sollte auch einmal in die Vergangenheit schauen“.

Uwe Kurzke

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