Die Öffnungszeiten waren unschwer zu erkennen: Wenn die lichtstarke Lampe in der Küchenecke mit Blickrichtung Alter Hafen leuchtete, war Leo auf seinem Posten hinterm Tresen. Und dann lohnte sich die Fahrt mit Auto oder Fahrrad einige hundert Meter auf dem Tiefwasseranleger allemal .Nicht wenige stiefelten sogar bei Wind und Wetter vom Alten Hafen über den Deich bis zum Café Rungholt in dem klobigen Gebäude ganz vorne an der Heverkante – 2,8 Kilometer, eineinhalb Stunden zu Fuß. Oder eben ein paar Minuten mit dem Auto. Doch – auch wenn es viele Insulaner nie so richtig nachempfinden konnten/wollten – der Weg war der Mühen wert!
Denn on Top auf dem ansonsten von der Fährgesellschaft genutzten und weithin sichtbaren Turmbau warteten anfangs des Jahrhunderts gleich mehrere Pellwormer Sehenswürdigkeiten: Zum einen eine Art Bistro, in der es – bisher unwidersprochen – die wohl beste „Tote Tante“ und derlei Leckereien gab. Sodann einen 360-Grad-Rundblick auf Meer und Insel, wie er so sonst nirgends zu finden ist – Sturm, Gewitter, Wolkenspiele oder auch einfach Blauer Himmel – immer wieder „klebten“ die Besucher an den Fenstern oder ließen sich auf dem offenen Rundbalkon davor gehörig zerzausen.
Zum Dritten wartete hier hunderte Meter vor der Wattenmeer-Küste hinterm Tresen an der stets ordentlich sortierten Bar im meist karierten Hemd ein stämmiger Mann mit Seemannsbart, LEO – seinen vollen Namen kannte und kennt kaum einer, er tut auch wenig zur Sache. Was zählte, waren das frisch gezapfte Bier vom Fass, kräftige Pharisäer, Becher voller Tote Tante oder auch ein wetterfester Whisky-Grog. Hier trafen sich Insulaner mit und ohne „festem Wohnsitz“, hier wurde diskutiert, gefeiert und gesungen – im sonnigen Sommer, wie im stürmisch-kalten Winter. Und egal, ab es nun Café Rungholt hieß oder Am Fähranleger, Bistro oder Cocktailbar – im Grunde hieß es einfach „Bei Leo“ – er war die Seele vom Geschäft!
Bei Leo – das war über Jahre ein Sehnsuchtsort für alle, die kamen und auch für die, die wieder auf die Fähre mussten. Man traf sich mit Freunden und Gastgebern und atmete erstmals/letztmals die „Pellwormer Luft“. Es gab nicht immer jederzeit alles, und Leo war auch nicht der professionelle Gastronom – aber er war auch als „gelernter“ Russe wichtiges Aushängeschild für die Insel und zwar eines von der Art, wie man sie gerade in der Pellwormer Gastronomie noch öfter sucht – wer noch das Restaurant von Familie Thieben in der Nordermühle kennt, die Küchengastronomie im „Zum Kleinen Mecki“, oder aktuell „Bei Arno“ im Hafen, der weiß, woran ich denke…Echte Originale hinter Tresen und Herd, die auch noch Kontakt mit dem Gast pflegen, das findet man in anderen Feriengebieten ja durchaus öfter.
Zurück zu Leo und seiner „Gipfelstation“ hoch über dem Wattenmeer. Es war schon beachtlich, was er in seiner Mini-Eckküche so alles servieren konnte, nie genau wissend, ob und wie viele Gäste kommen, dem „Ruf der leuchtenden Lampe“ draußen vor dem Deich folgen würden. Russische Blinis, der berühmte hausgebackene Zupf- oder Nusskuchen, Krabben satt mit handgerührter Knoblauch-Mayonnaise – man musste bisweilen länger aufs Bestellte warten, blieb dafür aber gerne auch länger– Leo war irgendwie wie heimkommen! Da wurden Hochzeiten und sonstige Familienfeste gefeiert, man verabredete sich für den Jahreswechsel und genoss oft auch einfach nur zu zweit das beeindruckend romantische Wolkenspiel über dem Meer.
Wenn Leo eines nicht leiden konnte, dann war die inseluntypische Hetze – so mancher Fährtermin wurde da unversehens verpasst und nicht selten half auch mal ein Gast am Zapfhahn aus… Und wenn der Abend lang wurde, über den Wechsel von Ebbe und Flut oder Ähnliches ausführlich geschnackt worden war, dann holte Leo den Wodka und die Gurken raus und fragte:“ Welche zuerst ?“ Es war der Wodka! Und es dauerte bisweilen lang, sehr lang, bis der Wirt das seinen Gästen/Freunden klar machen konnte…
Nun gut! Die Lokalität oben im Turmbau war nur gepachtet, gehört der NPDG und war im wahrsten Wortsinn undicht geworden. Da standen teure Umbauarbeiten an und Leo bekam Probleme mit den Pachtgebühren. Zudem fand sich niemand an seiner Stelle und offenbar erkannte man auf der Insel auch die Bedeutung dieses Sehnsuchtsorts an der Heverkante nicht richtig.
Also löschte Leo, der Lebenskünstler 2016 das Licht. Café, Bistro, Bar wurden emotionslos zu weiteren Büros und Tagungsräumen umgestaltet.
Für immer? Das glaube ich nicht…
Bert Siegelmann